Betrachtungen zum Zeitgeschehen
4. Mehrheiten und Konsensprinzip -
im Parlament und bei Volksabstimmungen
"Demokratie" ist ein inzwischen fast nichtssagender, oft eher propagandistisch verwendeter Begriff, falls nicht näher gekennzeichnet wird, was darunter zu verstehen sein soll. Denn in den verschiedenen Staaten der Erde wurde und wird sehr Unterschiedliches darunter verstanden, und nur wenige Staaten lehnen für die Form ihrer politischen Willensbildung den Begriff ausdrücklich ab. Mit der griechischen Wortbedeutung - "Herrschaft des Volkes" bzw. der Bevölkerung - muß das nicht immer viel zu tun haben - auch das genaue Gegenteil kommt vor.
Im Westen ist die gebräuchlichste Form eine eher repräsentative Demokratie, die höchstens geringe direktdemokratische Korrekturmöglichkeiten enthält, und praktisch nur Politiker zu wählen erlaubt. Dies entspricht nicht mehr dem heutigen Bewusstsein der Menschen, die meist erlebt haben, daß sie von keiner Partei zu 100% hinter deren Programm oder deren Politik stehen können, sondern daß sie im einen oder anderen Fall gerne selbst effektiv mitreden würden.
Gerade über die für Alle existenziell wichtigen Streitfragen können sich die
Bürgerinnen und Bürger sehr wohl selbst ein Urteil bilden - und dies oft freier
von sachfremden Interessen als manche Berufspolitiker. Diese Korrekturfähigkeit
politischer Entscheidung durch Volksabstimmungen kann sogar als die eigentliche demokratische
Legitimation politischer Gremien verstanden werden. Es
ersetzt die politische Gremienarbeit jedoch nicht *). Es kann also
nicht um ein entweder-oder, sondern nur um eine Ergänzung der repräsentativen
Demokratie mit direktdemokratischen Elementen*) gehen. Dies sind in erster Linie
von Bürgern in Gang gesetzte Volksinitiativen und Volksbegehren, und die
darauf folgenden eigentlichen Volksentscheide, wobei oft auch mehrere
Alternativen zur Abstimmung stehen können. Daneben können die unverbindlicheren
Volksbefragungen eine Rolle spielen; sie haben aber nur einen Sinn, wenn ihr
Ergebnis von den politischen Gremien ernst genommen wird. Ein Referendum
dagegen ist oft eher problematisch, weil es nicht von den Bürgern, sondern von
Regierungen ausgeht, die sich damit nur eine zusätzliche Unterstützung für ihr
Handeln holen möchten, ohne daß Alternativen diskutiert werden können. Ein
einigermaßen gutes Beispiel für funktionierende direktdemokratische Elemente ist
die Schweiz.
Übrigens ist es eine grobe Mißachtung der Bürger/innen,
wenn manchmal gesagt wird, eine Parlamentswahl sei eine Abstimmung über den
einen oder anderen Programmpunkt einer Partei. Wegen welcher Punkte ein Bürger
eine bestimmte Partei gewählt hat, und welche ihrer Punkte er ablehnt, ist
allein seine Sache. Erwiesen ist, daß fast kein Bürger alle politischen Ziele
einer einzelnen Partei teilt. Je nach Sachgebiet gibt es Umfragemehrheiten, die
gar keine Beziehung zur Kombination von Zielen im Programm der jeweiligen
Mehrheitspartei aufweisen.
Deutsches
Grundgesetz Art. 20 (2): 1Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. 2Sie
wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere
Organe der Gesetzgebung (Anm: Bundestag), der vollziehenden Gewalt (Anm:
Regierung) und der Rechtsprechung ausgeübt.
Art. 21 (1): 1Die Parteien wirken bei der politischen
Willensbildung des Volkes mit.
Leider wurden davon nur die Wahlen praktisch anwendbar gemacht - durch das Bundeswahlgesetz; sowie die Rolle der Parteien - im Parteiengesetz. Ein entsprechend notwendiges Bundesabstimmungsgesetz wurde bisher verweigert. Da einige bekannte Juristen fälschlich interpretierten, die Worte "und Abstimmungen" bezögen sich nur auf die in anderen Grundgesetzartikeln ausdrücklich genannten Sonderfälle - insbesondere die Neugliederung von Bundesländern - zogen sich sogar Volksabstimmungsinitiativen auf die narrensichere Forderung zurück, man solle zuerst das Grundgesetz mit Zweidrittelmehrheit präzisieren, um Volksabstimmungen zu ermöglichen. Diese Zweidrittelmehrheit wurde bisher bei entsprechenden Anläufen nicht erreicht. Wäre auch nur der Spezialfall der Länderneugliederung nicht nur im Wortlaut, sondern im offensichtlichen Sinn ernst genommen worden, dann hätte 1990 eine gesamtdeutsche Volksabstimmung stattfinden müssen. Auch der Bevölkerung eine europäische Verfassung 2005 ohne Volksabstimmung zumuten zu wollen, war grober Unfug, denn das wäre viel einschneidender als eine Neugliederung der Bundesländer (es wurde bisher durch Volksabstimmungen in anderen Staaten verhindert). Weiter hätte eigentlich das ursprünglich als vorläufig betrachtete Grundgesetz nach Art. 146 nach 1990 durch eine gesamtdeutsche Verfassung abgelöst werden können/ sollen. Es gab auch Entwürfe, gerade auch aus der Bürgerbewegung der östlichen Bundesländer, für viele Änderungen, die in eine solche gesamtdeutsche Verfassung hätten einfließen können. Darunter war ebenfalls das besagte unmißverständliche Recht auf Volksabstimmungen. Der Bundestag hat jedoch damals nur kleinste Änderungen des Grundgesetzes durchgehen lassen. D.h. von A bis Z die sachlich unbegründete "Angst vor dem Volk", statt eine volle Volkssouveränität, wie sie im Grundgesetz angelegt ist.
Nun
gibt es sowohl bei parlementarischen Entscheidungsprozessen, als auch bei
direktdemokratischen das Problem, daß vielfach eine Mehrheit mit ca. 51% der
Stimmen die Minderheit von z.B. 49% - und damit in beiden Fällen auch fast
die Hälfte der Bevölkerung - einfach übergangen werden kann.
Im Bereich politischer Gremien kann ein teilweiser Ausgleich dadurch kommen,
daß - wie es im deutschen Rechtssystem wie auch in anderen Staaten sinnvoll
angelegt ist - mehrere Kammern existieren. Also in Deutschland zum einen
der direkt gewählte Bundestag - in sich wieder austariert nach Direktkandidaten
und Listenkandidaten - und der Bundesrat als Länderkammer, sowie einen Vermittlungsausschuß
dazwischen. Dies wurde jetzt von Politikern fälschlich als
"Föderalismusproblem" oder als "Blockadezustand"
dargestellt. Der so gegebene Zwang, auf den "Rest" des Landes
Rücksicht zu nehmen, ist eine durchweg positive Errungenschaft: auch wenn
dadurch manche Ebtscheidungen länger dauernm, sind sie besser fundiert.
Auch die Art politischer Beratung, etwa im Rahmen breit angelegter
parlamentarischer Anhörungen usw. kann zu einer besser legitimierten und
fundierten Politik führen.
Im Bereich der
Volksabstimmungen ist es wesentlich, daß freie, für alle Seiten gleiche
Informationsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, und so einige Zeit öffentlich
diskutiert wird. Ist eine Entscheidung wirklich reif, dann können auch so weit
größere Mehrheiten als 51% zustandekommen. Wenn nicht, dann haben wir dasselbe
Problem wie im Parlament, wie dann mit der "Minderheit" umgegangen
wird. Dazu hat Irland ein interessantes System entwickelt. Stehen dort mehrere
Alternativen zwischen streng und gemäßigt zur Abstimmung, werden bei der
Auswertung die Ergebnisse aller Alternativen mitberücksichtigt, statt daß
irgend etwas einfach unter den Tisch fiele.
Eine andere, teilweise Lösung bietet sich aufgrund von Verfassungsbestimmungen
an, daß für bestimmte grundsätzliche Fragen nicht nur über die Hälfte,
sondern z.B. zwei Drittel der Stimmen zusammenkommen müssen. Wo dies bei
Abstimmungen im Parlament gilt, kann das genauso für Volksabstimmungen zu
denselben Fragen vorgesehen werden.
Ein solches
Bestreben, soweit es möglich, sinnvoll oder nötig ist, auch im Politischen auf
der Basis eines Konsenses zu arbeiten, ist eine Parallele zu entsprechenden
Arbeitsweisen im Kleinen. So kann z.B. bei einer Tagung entweder mit Mehrheitsabstimmungen
alles schnell abgebügelt werden - mit der Konsequenz, daß selbst nach Jahren
selten echte Lernprozesse stattfinden oder haltbare Entscheidungen getroffen
werden. Die Tendenz kehrt sich dann bei sich ändernden Mehrheiten inerhalb der
betreffenden Gruppierung wieder um. Eine Verschlimmerung dieses Verfahrens
entsteht üblicherweise durch einen harten Geschäftsordnungsformalismus, wo der
Geist oft auf der Strecke bleibt. So gibt es oft nach Jahrzehnten in
Abwandlungen immer noch dieselben ungelösten Konflikte. Das ist die Kehrseite
der vermeintlich so "schnellen" Mehrheitsentscheidung.
Der andere Weg, der länger dauert, aber dafür zu echten Lernprozessen und
damit "nachhaltigeren" Entscheidungen führen kann, führt über das Konsensprinzip.
Dabei ist mit entscheidend, ob jemand nicht besonders für etwas ist, oder ob er
es für sich nicht mittragen kann, oder ob er nicht einmal mittragen kann, daß
Andere etwa so durchführen (consensus break). D.h. die Tagung geht so oft ins
Plenum (Vollversammlung) und zurück in kleine parallele Arbeitsgruppen usw.,
und wieder ins Plenum, bis sich eine Lösung abzeichnet, mit der Alle zumindest
leben können. Dieses Verfahren wurde in den 80er Jahren z.B. von einem
Frauen-Friedenscamp in den USA entwickelt. Es hat sich gezeigt, daß es auch in
großen mehrtägigen Kongressen anwendbar ist.
Zur Stuttgart-21-Volksabstimmung
*) Vgl. z.B. die Initiativen www.mehr-demokratie.de
und www.willensbekundung.de
bzw. www.wirsinddeutschland.org
. Für das Superwahljahr 2009 wird eine Aktion
Volksabstimmung vorbereitet, die Volksabstimmungen auf Bundesebene auch zum
Wahlkampfthema zu machen gedenkt: www.aktion-volksabstimmung.de
.
Eine weitere Initiative "Omnibus für direkte
Demokratie", www.omnibus.org
hatte eine Aktion "Wahlstreik" am Laufen (2005). Diese
Aktion empfehlen wir nicht, da es nicht sinnvoll ist, das fehlende Recht auf
Volksabstimmungen und die Bundestagswahlen gegeneinander auszuspielen. Auch und
umso mehr, solange es auf Bundesebene keine Volksabstimmungen gibt, spielen der
Bundestag und die entsprechenden Wahlen eine erhebliche Rolle für die
Gestaltung des politischen Lebens - wie unvollkommen auch immer, und mit wie
vielen "kleinere-Übel-Abwägungen" das auch immer behaftet sein mag.
Zudem gäbe es auch im Bereich der Koalitionsbildung einige Verbesserungsmöglichkeiten,
die die Unvollkommenheiten abzuschleifen helfen würden. Zwar schreibt die
Initiative, es gehe um Menschen, die
ohnehin nicht wählen würden, und damit zugleich bekunden, daß sie
direktdemokratische Instrumente vermissen, was die Initiative dann öffentlich
machen kann. Aber es könnte dadurch eine zusätzliche Motivation entstehen, nicht zu
wählen. Nicht zu wählen kann sehr problematische Folgen haben und auch mit
Verantwortung verbunden sein.
Die Initiative http://www.unabhaengige-kandidaten.de/ zählt zu ihren Gemeinsamkeiten ebenfalls das Eintreten für direkte Demokratie.
Studien für eine "Bürgergesellschaft" und deren regionale Entwicklung finden Sie in der Zeitschrift "Zukünfte": http://www.netzwerk-zukunft.de .
Ein anderes interessantes Projekt: der "Demokratie-Spiegel" ist ein Monatsmagazin für Politik, Direkte Demokratie, Bürgerpolitik in Deutschland und Europa. www.demokratie-spiegel.de
Siehe auch den deutschen Bürgerrechtsblog http://www.netzpolitik.org .
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