Betrachtungen zum Zeitgeschehen


 

 

Die Stuttgart 21 - Frage nach der Volksabstimmung
(updates nach der Abstimmung in rot)

Stuttgart 21 als Demokratieproblem

Stuttgart 21 ist längst zu einem überregionalen Demokratieproblem geworden: der sich auf vorgeschriebene Formalien stützende Rechtsstaat und heutige Anforderungen der Demokratie an die Bürgerbeteiligung treten gegeneinander auf. Eine Versöhnung dieser Grundvorstellungen ist möglich, wenn der Staat zur Einsicht zurückkehrt, daß im deutschen Grundgesetz erst die Politik von A bis Z vom "Volk" ausgehen muß, wenn der Staat legitimiert sein soll, sich Rechtsstaat zu nennen. Von einer vollen Verwirklichung und Berücksichtigung dieser Grundlage im Sinne des heutigen Rechtsbewusstseins der Bevölkerung sind wir heute weit entfernt. In fast allen Orten, auch im Land und im Bund und der EU wird jahrelang mehr oder weniger hinter verschlossenen Türen geplant, vielleicht mit kurzen nichtssagenden Pressemitteilungen, und wenn dann die Offenlegung und öffentliche Diskussion ansteht, wollen die Gemeinderäte und Ämter vielfach höchstens noch Kleinigkeiten ändern, d.h. sie wollen dann keine grundsätzlichen Gegenargumente gegen das jeweilige Projekt mehr aufnehmen. Maßgebliche Politiker auf allen Ebenen - bis hin zur Bundeskanzlerin - wollten sogar ausdrücklich nicht mehr auf Umfragen, bzw. den bekanntgewordenen Willen der breiten Bevölkerungsmehrheit hören. Dementsprechend sind auf vielen Gebieten große Widersprüche zwischen politischen Gremien und Bevölkerung entstanden. Das fördert die für jede Demokratie gefährliche Politikverdrossenheit, und führt früher oder später zu Aktionen, wie bei Stuttgart 21 oder anderswo. Spätestens in diesem Stadium sollte die Bevölkerung ernst genommen werden, statt sie mit Formalien abkanzeln zu wollen. Auch ein stures Mehrheitsdenken ist hier nicht immer eine allein ausreichende Lösung, egal ob in Parlamenten oder durch eine Volksabstimmung; s.unten.

Deutsches Grundgesetz Art. 20 (2): 1Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. 2Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung (Anm: Bundestag), der vollziehenden Gewalt (Anm: Regierung) und der Rechtsprechung ausgeübt.
Art. 21 (1): 1Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.

Das Schiedsverfahren

Auch das bei Stuttgart 21 interessante öffentliche Schiedsverfahren hat nichts an der massiven Umstrittenheit von "Stuttgart 21" geändert - was eigentlich schon allein ein Grund sein könnte, aus Gründen der Demokratie und des Rechtsfriedens auf das Projekt zu verzichten, bzw. Alternativen ernsthaft zu diskutieren, bis ggf. etwas Konsensfähigeres entsteht. 

Die Bedeutung der Volksabstimmung

Auch die in Baden-Württemberg jetzt angesetzte Volksabstimmung hätte die "Befriedung" nur unter ganz bestimmten Ergebnissen bringen können, und/ oder bei einem feinfühligen, differenzierten Umgang mit den Ergebnissen. Es gab diese Möglichkeiten:

a) Geht z.B. die Volksabstimmung zu Gunsten der S21-Gegner aus ("Ja" hat die Mehrheit der Abstimmenden), und das sind nicht zugleich 33% der Wahlberechtigten (="Quorum" 33%), d.h. es gäbe zu Viele, die nicht zur Abstimmung gingen, bzw. keine Meinung haben, dann  wird es nicht vermittelbar sein, daß das automatisch einer mehrheitlichen Befürwortung des Baus von Stuttgart 21 (Ablehnung des Kündigungsgesetzes) gleichgesetzt wird. Denn das wäre noch einmal genau jener vielfach abgelehnte Formalismus zusammen mit Machtpolitik. In diesem Fall wäre vielmehr zumindest eine neue Verhandlung über die Möglichkeiten bzw. Korrekturen nötig. Da das nach dem bisherigen Bekunden der Landesregierung nicht vorgesehen ist - sondern nur dann, wenn alle Formalien voll erfüllt sind - würden sich die S21- Gegner dann ermutigt fühlen, weiter zu demonstrieren - hoffentlich trotz Frustration gewaltfrei. Da sich dann auch das baden-württembergische Volksabstimmungsrecht als unpraktikabel und veraltet erwiesen hätte, wenn es solche Widersprüche ergeben kann, würde es dann um die Änderung dieses Volksabstimmungsrechts in Richtung der erprobten und funktionierenden schweizerischen Volksabstimmungen gehen. 

b) Im anderen Fall, daß doch genügend viele zur Abstimmung gegangen sind und mit "ja" gestimmt haben, würde das Projekt in dieser Form evtl. tatsächlich nicht gebaut werden, und so wäre die besagte Befriedung möglich. Aber es bestünde dennoch eine schwache Möglichkeit, daß die Bahn und die Bundesregierung das Projekt allein finanzieren wollen ohne Baden-Württemberg, und dann würden die Kämpfe weitergehen.

c) Im weiteren Fall, daß die Mehrheit der Abstimmenden für Stuttgart 21 - "nein" zum Kündigungsgesetz - gestimmt hätten, aber ebenfalls keine 33% der Wahlberechtigten, würde auch das dann plötzlich in der Wirkung gleichgesetzt werden mit einer Ermächtigung zum Bau von Stuttgart 21, wie wenn zugleich mehr als 33% so gestimmt hätten. 

d) Falls tatsächlich die Mehrheit und die 33% der Abstimmungsberechtigten mit "nein" zur Kündigung (und damit für Stuttgart 21) stimmen würden, würde selbst das nicht unbedingt zur Befriedung führen, weil eben die Durchsetzung einer knappen Mehrheit gegen eine unterlegene Minderheit für solche heiß und grundsätzlich umstrittenen Projekte nicht zwingend das passende Mittel ist, das Wunden heilt. 

Eingetreten ist, daß eine Mehrheit mit "nein", also für Stuttgart 21 gestimmt hat. Dabei wurde interessanterweise meist nichts darüber angegeben, ob denn beim "nein" überall die 33% der Wahlberechtigten erreicht wurden. Die meisten großen Städte haben mit ja, d.h. gegen Stuttgart 21 gestimmt. 

Eine Abstimmung ist ein wichtiges Instrument, aber sie ist kein Ersatz für einen feinfühligen differenzierten Umgang mit den Ergebnissen, genau so, wie sie sind, d.h. in jedem Fall unter Berücksichtigung der Ergebnisse unter den Abstimmenden. Das gilt auch für die Medien. Parolen wie "Stuttgart 21 wird gebaut" sind fahrlässig und falsch bzw. verfrüht. Wo in heiß umstrittenen Fragen mit bloßen Mehrheiten starke aktive Minderheiten einfach untergebuttert werden, und das bei Projekten, die gar nicht von der Bevölkerung, sondern von der Verwaltung ausgingen, läuft selbst das positive Instrument Volksabstimmung Gefahr, in eine Art "Bonapartismus" auszuarten. (Napoleon Bonaparte regierte tyrannisch bzw. manipulativ mit Hilfe der von ihm inszenierten Volksabstimmungen / Referenden.) Eine echte Volksabstimmung geht normalerweise von der Bevölkerung aus. Der Volksentscheid kann entweder die zweite Stufe, oder wie aus den Reihen der Demokratiebewegung entworfen, die dritte Stufe nach einer Volksinitiative mit relativ wenigen Unterschriften sein, wenn das Parlament nicht darauf eingeht, gefolgt 2. von einem Volksbegehren mit höheren Anforderungen - jedoch mit weit geringeren als diejenigen in der Landesverfassung, die eine aus der Bevölkerung heraus kommende  Volksabstimmung praktisch unmöglich machen. Auch weitere Hindernisse müßten abgeschafft und dem erfolgreichen Volksabstimmungsmodell der Schweiz angeglichen werden. Z.B. könnten heute in Baden-Württemberg, Behörden fast jede Abstimmung behindern durch undemokratische formalistische Einsprüche, die Abstimmung sei zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zulässig, oder sie gehe um ein Thema, das eine Volksabstimmung nicht entscheiden dürfe, usw.

Anfechtbarkeit der Ergebnisse

Leider haben eine Anzahl von anderen für die Durchführung der Abstimmung verantwortlichen Gremien (Gemeinderäte u.dgl.) denjenigen Respekt vor der Volksabstimmung vermissen lassen, den die Landesregierung in diesem Informationsheft zeigte. Gemeinderäte wie der in Trossingen, oder Landräte wie der im Schwarzwald-Baar-Kreis, die vor der Abstimmung Propaganda für Stuttgart 21 machten, liefern dadurch Gründe zu späteren Anfechtungen der Abstimmung. (S. z.B. SWP-DN 22.11.11). Es war durchgesickert, daß das entsprechende Regierungspräsidium deshalb vorher vor diesem Verhalten gewarnt hat, woran sich dann z.B. Tuttlingen gehalten hat. Sie können also nicht sagen, sie hätten von nichts gewusst. Einzelne Politiker oder Fraktionen mögen dazu berechtigt sein, aber die für die Durchführung der Abstimmung mit verantwortlichen Gremien als solche nicht ohne weiteres. Das ist, wie wenn z.B. bei einer Gemeinderatswahl der Gesamtgemeinderat mehrheitlich als Gremium beschließen würde, daß er für die Wahl der Partei X eintritt und wirbt. Dann könnten Wähler diese Wahl hinterher ggf. anfechten, und sie muß dann unter Umständen rechtlich einwandfreier wiederholt werden. Deshalb ist uns kein aktueller Fall bekannt, wo bei einer Wahl eine solche Dummheit passiert wäre. Auch wo z.B. bei einer Wahl einer Regierung vorgeworfen werden konnte, sie habe zwecks Wahlpropaganda finanziell den Regierungsapparat genutzt, hat das Folgen gehabt. So etwas ist einfach geschmacklos und zeigt wiederum die Mißachtung gegenüber den Rechten der Bevölkerung bzw. der Steuerzahler. Da viele Gemeinden in der einen oder anderen Weise betroffen sind, handelt es sich auch um ein landesweites Problem, eine Manipulation des Wählerwillens im Sinne der Gremien. Bei einer Volksabstimmung soll die Bevölkerung sprechen, und da haben solche Gremienvertreter keine andere Rolle zu haben als andere Bürger/innen, und sie haben sich nicht mit dem Nachdruck ihrer offiziellen Funktion zu melden - in dieser haben sie lediglich zur Abstimmung aufzurufen. Eine offizielle öffentliche Rüge der Aufsichtsorgane wäre das Mindeste, was hier nötig wäre. 

Die Problematik der zwar korrekten, aber im Bürokratendeutsch verfassten Abstimmungsfrage

Wir haben selbst gebildete Zeitungsleser gefunden - darunter auch Stuttgart 21 - Gegner, die sich mit dem umstrittenen Projekt Stuttgart 21 befasst haben - die nicht wussten, wie herum die Abstimmungsfrage gemeint ist. Die Formulierung ist im Sinne von Verbraucherschützern usw. schlechtes Bürokratendeutsch. Daher hier nochmals unsere vor der Abstimmung gegebene Erklärung:

Sie sind gegen den Bau des Tunnelprojekts Stuttgart 21, und dafür, daß das Land Baden-Württemberg die Finanzierung aufkündigt (bei einem kleineren, noch ungeklärten Entschädigungsbeitrag an die Bahn für den Ausstieg). Sie sehen eine bürgerferne Gremienpolitik in Stadt und Land kritisch, und wollen ein Zeichen für eine bürgerfreundlichere Planungsart setzen, die auch neue Gesichtspunkte aufnimmt. Sie sind für den Bau des Tunnelprojekts Stuttgart 21, und dafür, daß die Landesregierung ihren vollen finanziellen Beitrag dazu leisten muß. Sie vertrauen den bisherigen Verfahren der Verwaltungsgremien in Stadt und Land, und wollen diese in ihrem Festhalten an einmal gefassten Beschlüssen bestätigen.

Sie stimmen mit Ja (Ja zum "... Stuttgart-21-Kündigungsgesetz")

Dann stimmen Sie mit Nein (Nein zum "... Stuttgart-21-Kündigungsgesetz")

Zu den einzelnen Argumenten für und gegen Stuttgart 21 
verweisen wir auf das an alle Haushaltungen in Baden-Württemberg verschickte Heft der Landesregierung in Stuttgart.
Da die Auseinandersetzung allem Anschein nach weitergehen  wird, sind sie weiter bedeutsam.
Das gilt auch für die "K21" - Alternative mit Erhaltung des Kopfbahnhofs, bzw. einem alten Konzept mit einer Kombination aus der Erhaltung des Bahnhofs mit den oberirdischen Gleisen, und lediglich einem verbindenden Tunnel unter diesem Bereich statt quer dazu durch die Stadt, wie er von Schlichter Heiner Geisler auf den Tisch kam, und von ihm als aktuell betrachtet wurde.

Runde Tische

Es könnte sich herausstellen, daß auch bei diesem Projekt eine Volksabstimmung - zumal mit so viel Manipulation durch Politikerwerbung und ungleichgewichtig schreibenden Medien, und einer solch mißverständlichen Abstimmungsfrage ! - nicht das geeignete Instrument zur vielfach gewünschten Befriedung des Konflikts ist; sondern daß "Runde Tische" aller an dem Konflikt Beteiligten mit weiteren Verhandlungen über die Details notwendig sind (wie wir das bereits vor Jahren für alle wichtigen gesellschaftlich umstrittenen Fragen für nötig befanden. Siehe dazu auch die ältere Seite allgemein zum Thema Volksabstimmungen / Direkte Demokratie.

Dies könnte auch wegen der möglichen Kostensteigerung eintreten. denn die Landesregierung, ist sich einig, keinerlei weitere Kostensteigerung über den vereinbarten Rahmen mehr zu übernehmen. und die Bahn, die vor der Abstimmung betonte, eine solche Steigerung trete nicht ein, fordert jetzt schon eine Übernahme etwaiger gesteigerter Kosten durch die Landesregierung. Die Bahn will auch keine Zusatzkosten übernehmen. Und der Bund könnte wegen der Zahlungen und Bürgschaften für die Eurokrise unter Umständen schon in 2012 an den Rand des Staatsbankrotts geraten. 

Was niemand hoffen kann, ist eine weitere Variante mit späteren Schäden an Gebäuden usw. wegen der jahrzehntelangen Bauarbeiten, durch Wasser aufnehmenden Gips im Untergrund ähnlich wie in Staufen, wie dies von Gutachtern der S21-Gegner für möglich bis wahrscheinlich gehalten wird. 

So kann zusammengefasst werden: Stuttgart 21 ist noch lange nicht gebaut, jedenfalls nicht so, wie es geplant war. Auch Demonstrationen usw. werden wahrscheinlich weiter dazugehören.

In jedem Fall ist die ganze Entwicklung um Stuttgart 21 für alle Beteiligten etwas Lehrreiches, soweit sie diesen Lerneffekt erst nehmen. Wer zu spät lernt, den bestraft das Leben (frei nach Gorbatschow). Es kann dabei selbst der Fall eintreten, (gleichfalls frei nach Gorbatschow), wo mindestens die Stuttgarter nur noch beten können - daß nichts geschieht, was Schäden verursachen würde, usw. 

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