Betrachtungen zum Zeitgeschehen


1. Zur Entwirrung der Diskussion um die Auflösung des deutschen Bundestages*,
1.7.2005, & Kommentar zum Bundesverfassungsgerichts-Urteil.

Aus mehreren, teils bisher nicht systematisch diskutierten Gründen sind die Vorgänge um eine Vertrauensfrage des Bundeskanzlers (1.7.05) und eine Neuwahl sehr problematisch.

1) Sind die mit Recht bestehenden Bedingungen für eine Flucht dieses Bundestages aus seiner Verantwortung nicht gegeben, weil alle vom Bundeskanzler und von Anderen bisher genannten Gründe nicht zutreffen, sondern bestenfalls subjektive Wahrnehmungen bestimmter Betroffener darstellen:

a.) die "Erpressung des Bundeskanzlers durch Teile der SPD" ist ein Begriff, der bei einem demokratischen Staatsverständnis für eine solche Lage völlig deplaziert ist. Es ist ein normaler politischer Vorgang, wenn bei einer sehr umstrittenen Politik (Hartz IV) Teile der Koalition beginnen, diese zu kritisieren, und Korrekturen zu fordern, die ein Großteil der Bevölkerung und vor Allem der betroffenen Langzeitarbeitslosen für notwendig hält. Es ist eher verwunderlich, warum dies nicht früher in deutlicherem Ausmaß zu Tage getreten ist - und warum der Kanzler und seine Umgebung so lange brauchten, bis sie mit tatsächlichen Korrekturbestrebungen reagierten.

Höchstens in umgekehrter Richtung könnte unter Umständen von Erpressung gesprochen werden. Der Bundeskanzler hat bereits mehrfach erfolgreich versucht - statt durch klare inhaltliche Abstimmungen - durch Vertrauensfragen Abgeordnete der Koalition auf Linie zu bringen. Da sie die Koalition erhalten wollten, mußten sie sich für ein Ja entscheiden, auch wenn sie inhaltlich gegen die damit jeweils direkt oder indirekt verbundenen Inhalte waren. Dies ist aber natürlich gerade kein Grund, den Ausweg in einer Auflösung des Bundestages zu suchen.

Auch ist es offensichtlich unbegründet, in diesem Zusammenhang von einer "mangelnden Stabilität der Regierung" zu reden. Noch am Tage vor der Vertrauensfrage hat die Regierungskoalition eine ganze Reihe von Gesetzen gemeinsam verabschiedet. Nur ein Gesetz, das dieselbe absolute Mehrheit gebraucht hätte, hat sie verschoben - nicht etwa, weil sie sich dieser Mehrheit von 301 Stimmen nicht sicher gewesen wäre, sondern weil sie bei Erreichen dieser Mehrheit die juristische Logik ihrer Vertrauensfrage in Gefahr sah. Im übrigen hat der Fraktionsvorsitzende der SPD-Fraktions- und Parteivorsitzende Franz Müntefering noch im Zusammenhang mit der Vertrauensfrage selbst herausgestellt, daß die SPD dem Kanzler vertraue. Auch Bündnis 90/ Die Grünen haben immer betont, daß es nicht an ihnen liege, wenn diese Regierung auseinandergehe; und das wurde ihnen auch nicht unterstellt.

Wenn ein Kanzler sich nicht mehr in der Lage sieht, genügend Menschen auch seiner eigenen Partei hinter seiner Politik zu vereinen, hat er die dafür angemessenen Möglichkeiten, entweder seine Politik zu ändern; oder zurückzutreten, und damit der Koalition oder dem Bundestag insgesamt die Möglichkeit zu geben, evtl. einen Nachfolger zu wählen, der für eine Politik stehen könnte, die genügend Abgeordnete unterstützen. Stattdessen die Republik das Chaos zuzumuten, das mit einer überraschenden und überstürzten Neuwahl zwangsläufig verbunden ist, war nicht angemessen. Ob es taktisch für die Akteure klug oder unklug gedacht war, bzw. ob sie ihrer Partei damit eher zusätzliche Schwierigkeiten verursacht haben, hat für diese Überlegung keine Bedeutung.

b.) Weiter wurde eine angebliche Bundesratsblockade als Grund genannt. Auch das ist als Begründung einer Staatskrise nicht haltbar. Solche Situationen sind in der Geschichte der BRD nicht neu, und sie haben nie einen bedrohlichen Charakter gehabt. Vielmehr ist es normal und im Sinne der Wähler gewesen, wenn, egal ob unter einer CDU/CSU/FDP- Bundesregierung, oder jetzt unter einer SPD/GRÜNEN- Bundesregierung, sich im Lauf der Jahre ein gewisses Gegengewicht durch die Landtagswahlen gebildet hat. Dies führte nie zu einer Lähmung der Republik - es sei denn in der einseitigen Wahrnehmung Jener, die gerne ihre Positionen - mit 5l% - der Bevölkerung rasch aufgezwungen hätten. Vielmehr hat es z.T. zu gründlicheren, und letztlich sehr wohl konstruktiven gesellschaftlichen Diskussionen geführt, und damit zu breit abgesicherten Beschlüssen. Dies war dann streckenweise zwar eine Art supergroßer Koalition, aber unter Beteiligung aller Parteien, und daher insoweit ohne die Nachteile einer klassischen und unbeliebten Großen Koalition, die nur die großen Parteien enthielt.

c.) Eine "fehlende legitimation" für die Reformagenda 20l0 trifft gleichfalls nicht zu, bzw. kann nicht als rechtlich zählender oder auch nur legitimer Grund für eine Auflösung des Bundestages angesehen werden. Schon die eben erwähnte Tatsache, daß gerade die Hartz IV-Reformen im Konsens mit der Opposition beschlossen wurden, zeigen, daß es dafür sehr wohl eine Legitimation gab. Das heißt nicht, daß etwas dergestalt Legitimiertes nicht zunehmenden Korrekturforderungen ausgesetzt sein kann, weil eben die praktischen Erfahrungen zeigen, daß das eine oder andere Detail sich nicht bewährt hat. Auch das ist im übrigen, egal ob es sich um eine solche Arbeit aus der Feder des Vermittlungsausschusses handelt, oder um eine einfache Bundestagsmehrheit, die ihre eigenen Beschlüsse verbessern müßte, ebenfalls ein ganz normaler und sinnvoller Vorgang. Es wird in der Politik viel zu wenig daran gearbeitet, Gesetze laufend zu optimieren - also gerade nicht mit negativem "Gschmäckle" (wie man in Baden-Württemberg sagt) "nachzubessern", sondern vorher zu wissen, daß dies bei jedem Gesetz notwendig wäre. Es wäre notwendig, nach Inkrafttreten eines Gesetzes ein regelrechtes Politikmanagement zu betreiben, also die Auswirkungen so schnell wie möglich und nicht erst nach 10 Jahren daraufhin zu überprüfen, ob sich alle Details bewähren, oder ob Anpassungen an die Realitäten und auch an die Rechtsprechung nötig sind. Wenn dies endlich als normal betrachtet würde, statt daß die Änderungen zum Spielball wechselnder Regierungen würden, könnte unter dem Strich sogar mehr Planungssicherheit entstehen - da der Anteil fachlicher Qualifikation steigen würde, wodurch die Kontinuität in den wirklich bewährten Grundlinien eher steigern würde. Dies wäre nun zusätzlich ein Ausblick, dessen Bedeutung über die akute Diskussion hinausreicht.

Die Legitimation für eine bestimmte Politik von einer vorgezogenen Bundestagswahl zu erwarten - die übrigens an den Bundesratsverhältnissen nichts ändern würde, s.u. - ist überhaupt nicht als ernst gemeint zu erkennen. 

ln diesem Zusammenhang darf auch einmal über die vermeintlichen Selbstverständlichkeiten bundesrepublikanischer Koalitionsbildungen nachgedacht werden. Es steht in keiner Verfassung, daß es überhaupt eine eheähnliche Verbindung in einer Koalition geben muß, der eine Opposition gegenüberstehen muß.  

2) Die ganzen sich überstürzenden Vorgänge und Tricks sprechen auch gerade nicht dafür, sondern dagegen, die Bedingungen für eine Selbstauflösung des Bundestages durch eine Grundgesetzänderung zu erleichtern (s.unten). Das Bundesverfassungsgericht hat bekanntlich vor Jahren eher die keineswegs nur formaljuristische, sondern auch sachliche Notwendigkeit gesehen, durch Auflagen die Selbstauflösung zu erschweren. Das ist nach wie vor mehr als aktuell. Es sind eher Gründe für diese Erschwerung hinzugekommen. Es geht hier nicht um ein übliches Eintreten für die einen Interessen oder gegen sie. Sondern um transparente Kriterien, die helfen sollen, die ungewöhnliche Sachlage in einwandfreier Art in den Griff zu bekommen. Eine originelle Situation verdient eine originelle Argumentation.

3) Es gibt aber einen alten Mangel des deutschen Grundgesetzes oder zumindest von dessen Interpretation, der sich in dieser Sache wie auch schon vorher zeigte: "Der Kanzler bestimmt die Richtlinien der Politik". Es ist ein Kuriosum, daß dies ausgerechnet in einem Staat mit mit einer solch diktatorischen Vorerfahrung (vor dem Weltkrieg) so verstanden wird, daß der Kanzler an Koalitionsvereinbarungen, Regierung und Abgeordneten vorbei einsame Entscheidungen treffen kann oder gar soll, womöglich sogar grundsätzliche politische Richtungsentscheidungen. Dafür sind wirklich die auf den Programmen der beteiligten Parteien fußende Koalitionsvereinbarung, sowie deren Beschlüsse zuständig. Ein Kanzler muß vielmehr Führungs- bzw. Durchsetzungsfähigkeiten in der Art aufweisen, daß er mit der Regierung zusammen regieren kann, statt gegen sie. Könnte er dies entweder aus Gründen zu ausgeprägter Sturheit und Eigenbrötelei nicht, oder wollte er es aus gegensätzlichen Interessen nicht, dann wäre zunächst er dort fehl am Platze, und nicht automatisch die jeweilige Regierungskoalition.
Das "stetige Vertrauen" eines Bundeskanzlers in seine Regierungsmehrheit, von dem das Bundesverfassungsgericht in einem früheren Fall sprach, bezog sich auf ein im Prinzip normales Verhalten eines Kanzlers. Einen Fall wie jetzt, wo ein Kanzler klar erkennbar mit dem Kopf durch die Wand will, also die Lage bei extremer Nachgiebigkeit der Koalition in einigen politischen Fragen hauptsächlich selbst herbeigeführt hat, hat das Bundesverfassungsgericht damals nicht gehabt. Ob ein solches Interesse eines Kanzlers wirklich höher wiegen sollte als alles Andere, ist sehr fraglich ...

Der Bundespräsident Horst Köhler (CDU) hat zwar am 21.7.05 zugunsten einer Neuwahl am 18.9.05 entschieden. Aber er hat keine neuen Argumente genannt, und wesentliche Argumente übergangen.
Daher klagten vor dem Bundesverfassungsgericht ein Abgeordneter der Grünen und eine Abgeordnete der SPD, sowie einige kleinere Parteien: ÖDP & Familienpartei, Zentrumspartei, Republikaner, Pro Deutsche Mitte, Tierschutzpartei. 
Die Klagen von kleinen Parteien wurden am 23.8. bzw. 15.9. mit eher formalen Gründen abgewiesen. Die Wahlunterlagen waren z.T. schon bei den Bürgern, bevor das Gericht am 25.8.05 das Urteil zu den Abgeordnetenklagen verkündete.  Mit diesem öffentlichen Druck durch "Sachzwänge" mehrerer Parteispitzen, Massenmedien usw. wurde dem Ansehen des Gerichtes ein schlechter Dienst erwiesen. Das Gericht anerkannte - anknüpfend an frühere Urteile - eine "auflösungsgerichtete Vertrauensfrage" eines Kanzlers und seinen Beurteilungsspielraum betr. die Instabilität seiner Regierung: nur wenn "Tatsachen keinen anderen Schluß zulassen", sei seine Beurteilung zu widerlegen. Einer der Richter wies dies in einem Minderheitenvotum ausführlich zurück.

Aufgrund des Urteils hat die Diskussion einiger Fachleute und Politiker neue Nahrung gefunden, künftig evtl. einer großen Mehrheit des Bundestages per Grundgesetzänderung ein Selbstauflösungsrecht zuzubilligen. Das wäre sehr problematisch: es würden sogar die heutigen Hürden der Kontrolle durch Bundespräsident und Bundesverfassungsgericht wegfallen, falls dies nicht ausdrücklich festgeschrieben würde. Im übrigen ist es wahrscheinlich, daß ein Kanzler auch in einem solchen Fall denselben Druck auf die Abgeordneten ausüben könnte wie diesmal. Außerdem gäbe es ein Selbstauflösungsrecht des Bundestages nur zusätzlich zum Recht des Kanzlers, wenn letzteres nicht ausdrücklich ausgeschlossen würde. Wegen der damit verbundenen, letztendlich wahltaktischen Einschätzungen des Kanzlers oder einiger Parteien gehören vielmehr alle derartigen Möglichkeiten gegenüber dem jetzigen Zustand eingeschränkt statt sie zu erleichtern. Siehe dazu auch oben, 2.

Inzwischen gibt es noch weitere Hürden. Wegen der - vom Bundesverfassungsgericht inzwischen in einer weiteren Entscheidung zugelassenen - vorzeitigen Bekanntgabe des "vorläufigen Endergebnisses" am 18./19.9., also vor der Nachwahl in Dresden am 2.10., hat bereits eine parteilose Direktkandidatin angekündigt, daß sie das Wahlergebnis wegen der dadurch möglichen Wählerbeeinflussung hinterher anfechten werde. Das könnte im schwierigsten Fall bedeuten, daß die Wahl bundesweit wiederholt werden müßte. Das ist aber unwahrscheinlich, weil dann diese Art der Wählerbeeinflussung unter Umständen noch viel größer wäre, nämlich bundesweit, statt nur in Dresden.

*) Art. 39 Grundgesetz: (1) Der Bundestag wird vorbehaltlich der nachfolgenden Bestimmungen auf vier Jahre gewählt. Seine Wahlperiode endet mit dem Zusammentritt eines neuen Bundestages. Die Neuwahl findet frühestens sechsundvierzig, spätestens achtundvierzig Monate nach Beginn der Wahlperiode statt. Im Falle einer Auflösung des Bundestages findet die Neuwahl innerhalb von sechzig Tagen statt.
(2) Der Bundestag tritt spätestens am dreißigsten Tage nach der Wahl zusammen.
(Für die vorzeitige Auflösung spielt Art. 68 eine Rolle.)

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