Betrachtungen zum Zeitgeschehen
2b. Wichtige ergänzende Gesichtspunkte für die Bildung von Regierungskoalitionen: u.a. die Problematik einer "Großen Koaliton" und eine Alternative: eine Allparteienregierung
Die
folgende Ausarbeitung ist im Zusammenhang mit der deutschen Regierungskrise von
2005 entstanden. Grundsätzlich sind die untenstehenden Gesichtspunkte jedoch
gerade jetzt nach der gescheiterten Sondierungen für eine
"Jamaika-Koalition" 2017 aktuell (ergänzt). Dabei darf auch einmal über die vermeintlichen
Selbstverständlichkeiten der Koalitionsbildungen in der BRD (und anderen
Staaten) nachgedacht werden.
(Betr. die für die öffentliche Wahrnehmung bisher näherliegenden Koalitionsarten wie Ampel- oder
Jamaika-Koalition siehe die entsprechende Seite von 2009.)
Dass das alte Verhaltensmuster von Regierung/ Koalition und Opposition keine tragende Rolle mehr hat, hat z.B. Klaus Kreimeier schon in einem Kommentar in der "tageszeitung" vom 15.9.1999 herausgearbeitet. Diese Entwicklung muss aber nicht rein negativ sein. Vielmehr wäre es möglich, diesen Faden in die Zukunft hinein weiterzudenken, um wünschbare und weniger wünschbare Perspektiven zu ertasten. Dies wird hier versucht. Im Grunde sind Koalition und Opposition schon bisher historisch eingespielte Gewohnheiten gewesen. Es ist ja in der BRD usw., wie auch in den deutschen Bundesländern nicht in der Verfassung festgelegt, dass auf diese Weise regiert werden muss.
Art.
63 des Grundgesetzes schreibt lediglich vor: "(1) Der Bundeskanzler wird
auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestage ohne Aussprache gewählt.
(2) Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages
auf sich vereinigt. Der Gewählte ist vom Bundespräsidenten zu ernennen. (...*)
Art. 64 (1): Die Bundesminister werden auf Vorschlag des Bundeskanzlers vom
Bundespräsidenten ernannt und entlassen.
Es gibt die alten ideologischen Richtungen oder "Lager", deren Wirkung nach bis etwa zu den Umbrüchen von 1989 ausreichte, um die alten Koalitions- Gebräuche einigermassen zu erhalten. Danach sind sie mehr und mehr zum blossen Theaterdonner verkommen. Etwas langsamer ging der andere Teil dieser Entwicklung, nämlich aus dieser organisierten Ratlosigkeit heraus zu differenzierterem Denken vorzustossen; oder gar aus dem Querdenken einen echten Dialog über die Grenzen der Organisationen und Blöcke entstehen zu lassen - ohne dass die jeweiligen Traditionen als Ausgangspunkte fallengelassen werden müssten. Das hat nicht in erfreulicher Weise funktioniert - auch wenn sich unter den Bürger/innen selbst sehr wohl ein differenzierteres Denken verbreitet hat, ist dies in der politischen Kaste noch nicht angekommen. Was sich daher stattdessen vorbereitet, ist ein negativer Abklatsch dieses Koalitions- Oppositions- Gegensatzes, nämlich ein Abgleiten in amerikanische Verhältnisse, wo die tatsächlichen Unterschiede zwischen den Parteien eher nur noch taktisch bedingte Kulisse sind - künstlich aufrechterhalten durch Geldinteressen, Karrierewünsche und persönliches Machtstreben.
a.)
Es ist z.B. im baden-württembergischen Gemeinderat - im Unterschied zu
den Stadtkoalitionen z.B. in Nordrhein-Westfalen - oder auf Staatsebene etwa in
der Schweizer (Fast-) Allparteienregierung etwas Anderes zumindest
angelegt. Da müssen alle Parteien für das geradestehen, was sie sagen, und sie
müssen sich auch nicht durch faule Kompromisse verschleissen. Es finden da
lebendigere gesellschaftliche Diskussionen statt, und trotz oder auch wegen der
wechselnden Mehrheiten bei unterschiedlichen Themenbereichen wird der Wille der
Bevölkerung eher akkurater umgesetzt als in einer starren Koalition. Da gibt es
auch keinen Bedarf tür eine vorzeitige Auflösung des Parlamentes.
Es
sei hier angemerkt, dass diese Perspektive nichts zu tun hat mit einer
Minderheitsregierung (die auch auf wechselnde Mehrheiten angewiesen sein kann,
wenn sie nicht von einem festen Partner toleriert wird; die aber u.a. instabil
sein kann) oder mit einer "Großen Koalition" aus nur 2 Großen Parteien.)
Eine
"Große Koalition" nur eines Teils der Parteien hat keine solche
Wirkung, s.u.
Was wäre nun möglich, statt dieser Karikatur des Möglichen (der "Großen
Koalition")? Wenn
- die Programme der Parteien nicht mehr den heutigen gesellschaftlichen
Fronten auf den einzelnen Gebieten gemäss formuliert sind - und daher kaum noch
jemand mehr als 50% des Programms einer Partei bejahen kann;
- die eheähnlichen, ohnehin allzu starren Koalitionsverträge immer
schneller zerredet und Makulatur sind;
- die Opposition als Kontrolle und kreativer Ideenlieferant immer weniger
stattfindet, und stattdessen zur abstossenden inhaltsleeren Polemik verkommen
kann;
- die Bürger/innen deshalb in Schüben immer politikverdrossener werden;
- Wenn letztendlich über Bundesrat und Vermittlungsausschuss doch
verhandelt werden muss; dann ist die Frage, ob nicht gleich so regiert werden
kann, wie dies z.B. in badenwürttembergischen Gemeinderäten und Kreistagen
möglich ist. Zwar haben sich, von Bonn/ Berlin usw. herkommend, auch dort
gewisse Fraktionsmuster eingeschlichen. Diese nehmen aber ab. Es könnte hier
also mit wechselnden Mehrheiten gearbeitet werden, wird es teilweise auch, und
es können wirklich interessante inhaltliche Debatten geführt werden. Denn es
gibt keine institutionalisierte Koalition oder Opposition, sondern nur die
Verwaltung samt direkt gewähltem Oberbürgermeister, und die einzelnen
Gemeinderatsfraktionen. Auch z.B. im
Europaparlament wird streckenweise erfolgreich mit wechselnden Mehrheiten
gearbeitet.
- Insbesondere könnten auch
die jeweiligen Stärken aus allen Parteien in der Regierung zusammenkommen. Da
muss zuerst die alte Theorie praktisch aller Parteien korrigiert
werden, sie könnten im Prinzip alleine am besten regieren; eine Koalition mit
einem Partner sei daher das zweitbeste und eine mit drei das Drittbeste usw. Es
ist umgekehrt: keine KÖNNTE auf Bundesebene alleine eine gute Regierung sein. Jede
Partei hat spezielle Stärken und Schwächen. Wenn
das früher oder später anerkannt wird, können zusammenkommen: unter
Anderem das soziale Engagement der SPD, die Umweltkompetenz der Grünen, das
Sicherheitsbewusstsein der CDU/CSU, und die auf bürgerliche Freiheiten und den
Mittelstand gerichteten Aspekte der FDP-Politik, (sowie der strenger sozial
bzw.sozialistisch ausgeeroichteten Anliegen der LINKEN, (und neuerdings ein auf
den Erhalt der Subsidiarität in Europa, und der weitgehenden Begrenzung der
Einwanderung gerichteten AfD.) Noch nicht die Parteien, aber das
Bewusstsein in einer breiten Bevölkerungsmehrheit entwickelt sich nachweisbar
langsam in Richtung einer über Gedanken einer einzelnen Partei hinausgehenden
Denkens. Im Prinzip müssen alle Gewählten miteinander
sprechen können, und Verantwortung übernehmen können für das, was
sie sagen. Müssen sie das nicht, ist es auch bei je nach Sichtweise als
unliebsam empfundenen Kräften eher schlimmer.
Ein Verschleiss eines Koalitionspartners wie in der Bonn/ Berliner Koalition mit dem notwendigen - aber oft noch nicht einmal eingesehenen - Spagat zwischen Regierungsfunktion und Fraktions- bzw. Parteifunktion findet da nicht statt. Jede Partei kann einfach das einbringen, was sie inhaltlich kann - und das ergibt zwar bei einer kleinen Partei auch keine Großen Erfolge, aber ihr entsprechende Erfolge. Und erstaunlicherweise ist selbst das Stimmengewirr in der SPD auf Bundesebene in der rot-grünen Koalition grösser und verwirrender, als zumeist in diesen doch viel freiheitlicheren Gemeinderatsfraktionen.
In der Schweiz ist eine Allparteienregierung sehr lange erfolgreich praktiziert worden, wenn auch in traditionell verhärteter Form ohne die neuen Kräfte. Dies zeigt immerhin, dass es im Prinzip sehr wohl auch auf Staatsebene anwendbar ist, und nicht nur lokal. Zur Zeit der auslaufenden DDR gab es dort bekanntlich die Runden Tische und auch den zentralen Runden Tisch in Ost- Berlin. Es könnte zu früh gewesen sein, das einfach als Interimsnotlösung in der Krise abzuwerten. Auch im Westen unter nicht dermassen krisenhaften Umständen haben z.B. lokal Runde Tische bei umstrittenen Projekten grössere Erfolge gehabt, als sie das Parteiengezänk brachte.
b.) Auch von dieser anderen Möglichkeit einer supergroßen bzw. Allparteien-Koalition gibt es ein negatives Zerrbild: das ist die berühmt-berüchtigte "Große Koalition" aus CDU/CSU umd SPD. Dadurch dass sie die kleineren Gruppen nicht einbezieht, und so doch nur ein Bündnis der Mächtigsten gegen die weniger mächtigen - unter Umständen innovativeren - Kleinen darstellt, hat sie eine in manchen Aspekten geradezu gegenteilige Auswirkung gegenüber einem Runden Tisch Aller.
- Neues
ist in einer Großen Koalition der Großen Volksparteien fast unmöglich. Es
ginge mehr um den kleinsten gemeinsamen Nenner ihrer Gruppeninteressen, statt um
Bürgerinteressen.
- Sie wäre "langweilig" und würde sich darauf beschränken,
die Probleme des Landes ohne Große Kontrolle "zu verwalten",
- wahrscheinlich würde sie auch die Bürger/innen noch stärker
kontrollieren, und sie stärker zur Kasse bitten.
- Eine Opposition wäre zwar vorhanden, würde vielleicht auch scharfe
Opposition betreiben, aber sie hätte praktisch keinen Einfluss. Ausserdem muss
sie keine Verantwortung für ihre Worte übernehmen. Sie muss nichts
durchrechnen. Sie kann also den neuen=alten "Lösungen" der Großen Koalition in anderer Art ebenfalls populistische bis demagogische
Scheinlösungen entgegensetzen, symbolische Politik, wie diese bereits heute
trainiert wird. Dies wäre bei einer Allparteienregierung grundsätzlich
anders.
Bei den wechselnden Bündnissen innerhalb einer Runden-Tisch- Regierung (oder unseretwegen zunächst eines Runden Tisches als informelles Gremium um die Regierung herum) sind Innovationen dagegen sehr wohl möglich. Auch ein fruchtbares, nicht in reine Polemik erstarrendes Opponieren ist in einem solchen lockereren Verbund sehr wohl möglich, wahrscheinlich sogar besser als in der heutigen Form. Es wäre auch bereits ein Fortschritt, wenn das überhaupt gedacht werden könnte, statt sich in der Zwickmühle der nicht mehr passenden alten Kategorien gefangen zu sehen.
Die Kleinkariertheit der derzeitigen Bundesrepublik Deutschland erfordert es im Grunde, die akuten Vorgänge vor einem solchen tieferschürfenden Hintergrund zu durchdenken.
Siehe darüber hinaus eine Tabelle aller Koalitionsmöglichkeiten in der BRD (2009).
Siehe auch die Seite betr. eine Ergänzung der parlamentarischen Demokratie durch direktdemokratische Elemente. Da natürlich auch die im Grunde fortschrittlichste Lösung einer Allparteienregierung wie alle Lösungen nicht vollkommen ist - weil die Menschen unvollkommen sind - ist der schweizerische Ansatz zusätzlicher direktdemokratischer Elemente sinnvoll. Er kann am ehesten für eine Legitimierung parlamentarischer Politik sorgen. Es wäre aber - auch solange eine Ergänzung durch Volksabstimmungen in der BRD auf Bundesebene nicht funktioniert - unsinnig, die real vorhandene Gestaltung der Politik durch den Bundestag und die Bundestagswahlen zu ignorieren, wie es einige der Volksabstimmungsbefürworter tun. Es sind sehr wohl auch im parlamentarischen Teil der Demokratie dringsndst Reformvorschläge nötig.
Siehe auch die Seite zu den Streitpunkten, die zur deutschen Neuwahldiskussion von 2005 führten.
*) Zu Einzelheiten des Verfahrens nach der Bundeswahl siehe die Seite "Wahlergebnisse und Wahlanalysen" (2005).
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