Betrachtungen zum Zeitgeschehen


12. Wahlergebnisse und - Analysen
- und wie geht es weiter?

Wahlergebnisse - das vorläufige amtliche Endergebnis ohne Dresden erhalten Sie am 19. 9 am zuverlässigsten und mit Kleinparteien hier: http://www.bundeswahlleiter.de (Dresden 2.10.).

Wahlanalysen, die u.a. darstellen, wieviele Wähler von wo nach wo gewechselt sind, sind mit Vorsicht zu genießen. Das ist nur indirekt und ungenau erschließbar. Sicher ist, daß CDU/CSU und SPD gegenüber der letzten Bundestagswahl beide viele Stimmen eingebüßt haben, und daß der Anteil der kleineren Parteien teils etwa gleichgeblieben, teils gestiegen ist.

Wahlauswertungen, die zeigen, warum welche Partei wie abgeschnitten hat, unterscheiden sich je nach Verfasser erheblich.
Sicher ist zunächst, daß jene "Schnellauswertungen" sehr subjektiv sind, wo gesagt wird, man habe die eigene Position "nicht genügend dargestellt". Vielmehr ist es eben so, daß es in Deutschland, wie auch anderswo Menschen mit unterschiedlichen Biographien und Bedürfnissen gibt. D.h. ein Teil der Bevölkerung will einfach bewusst eine bestimmte Politik - wie sie bei CDU/CSU und FDP auftritt - und lehnt gegenteilige Ziele eher ab; und bei einem anderen Teil ist es umgekehrt - sie wollen eine Politik in Richtung SPD; und ein weiterer Teil will noch andere (grüne) Maßstäbe glaubwürdig vertreten sehen. Und der Rest möchte ebenfalls entweder das Eine oder das Andere, aber deutlich radikaler, als es die klassischen Parteien bieten können. Und - nicht zu vergessen - Viele trauen längst keiner Partei mehr etwas zu, oder es ist ihnen alles egal. Diese "Teile" veränderten sich in all den Jahrzehnten in Wirklichkeit nur sehr wenig: eine eindeutige langfristige "rechte" oder "linke" Mehrheit gibt es schon lange nicht, und es spricht auch nichts dafür, daß es sie in absehbarer Zeit geben würde. Das Wahlergebnis selbst zeigt eine kleine "linke" Mehrheit, wenn die Grünen komplett als links eingestuft werden - was schon nicht ganz korrekt ist. Die kurzfristigen Wählerwanderungen, einmal einige Prozent mehr dahin, und einmal mehr dorthin, ändern nichts daran, daß alle diese Menschen einen Anspruch darauf haben, daß sie ernst genommen werden. (Damit soll nicht bestritten werden, daß es auch langfristige gesellschaftliche Lernprozesse gibt. Aber diese laufen eben nicht so eingleisig ab, wie sich die "Parteisoldaten" der verschiedenen Richtungen das wünschten.)

Wo gesagt wird "Die Wähler wollen dies und das", liegt aus den gleichen Gründen eine falsche Vorstellung von Menschen als rein statistischen Objekten zu Grunde. Das sind keine Nummern, sondern Menschen, die ihr Augenmerk auf z.T. unterschiedliche Anliegen richten. Daher sollte es einen wie auch immer gearteten Ausgleich geben, damit nicht Teile der Bevölkerung ganz übergangen werden: dies kann entweder geschehen durch die Regierung selbst (das wäre am deutlichsten bei einer "Allparteienregierung" der Fall; auf schon viel weniger geeignete Weise auch bei der bekannteren "Großen Koalition"; aber auch in eventuell durchaus zweckmäßiger Weise bei "Ampel"-und "Jamaika"-Koalitionen aus je drei Parteien. Eine andere Art von Ausgleich - Blockade ist meist eine völlig falsche Bewertung - kann im Falle unterschiedlicher Mehrheiten von Bundesregierung und Bundesrat erfolgen (Seite 1, Punkt 1b). Eine weitere Möglichkeit für einen solchen Ausgleich wäre die Einführung von Volksabstimmungen auch auf Bundesebene, wie es in den Bundesländern und Gemeinden bereits möglich ist. Neuerdings ist noch eine weitere, Ausgleichsmöglichkeit aufgetaucht, die noch mit allerlei Fragezeichen versehen ist: eine abwechselnde Kanzlerschaft. Auf jeden Fall ist es angesagt, daß sich die Parteien mit kompatiblen Vorschlägen aufeinander zugehen. Daß die Politiker pünktlich zum Weltkindertag das Theater "ich spiel nicht mit dir" inszenieren, ist wirklich peinlich. Lieber sich ein wenig mehr Zeit lassen (es gibt 30 Tage Zeit, und auch die Wähler/innen von Dresden wollen noch zu ihrem Recht kommen). Auch die Mitglieder und das Umfeld der Parteien müssen erst über die neue Lage nachdenken. Allzu umfassende Abgrenzungen fast Aller gegen Alle und Polemiken vor der Wahl waren eben schon da ein Fehler - viele Bürger/innen hat das schon damals gestört, und dieser Fehler wird daher nicht besser, wenn jetzt (bisher) in dieser starren Weise daran festgehalten wird.

Der Wahlausgang hat jedenfalls in erster Linie inhaltliche Gründe, wie sie sich auch schon vor der Wahl gezeigt haben: z.B. die Anliegen der deutlicheren Erhaltung der sozialen Absicherung auf der einen Seite; und das Setzen auf weitere Entlastungen der Unternehmen auf der anderen Seite. Diesbezüglich gibt es eben keinen k.o. - Sieg, auch wenn die Parteien CDU und CSU zusammen mehr Stimmen bekamen als die SPD. Wir hoffen, daß dennoch eine Einigung erfolgt, wer wen zu Verhandlungen einlädt, auch wenn es nicht vorgeschrieben ist.

Daß solche Inhalte einer Wahlentscheidung in zweiter Linie auch Personen betreffen, die für die jeweilige Politik stehen, ist gar kein Widerspruch. Es hat lediglich zur Konsequenz, daß auch bei Koalitionsverhandlungen neben Inhalten auch kompatible, jedenfalls dialogfähige Personen gefragt sind. Diese gibt es. Es müßte das durch fast gehässige Wahlkampfphrasen und -Tonarten gestörte politische "Klima" repariert werden, wenn Aussicht auf eine funktionsfähige Koalition bestehen soll. Das kann auch einbeziehen, daß solchen Personen, die das gar nicht schaffen würden, eben keine führende Rolle in diesem Prozeß zukäme. 

In der Praxis ist das bisher wenig berücksichtigt worden: Die FDP hat eine Koalition zwischen SPD/FDP und Grünen weiterhin abgelehnt. Des weiteren hat nach unseren Informationen die FDP, wahrscheinlich in Form von G. Westerwelle, der CDU/CSU sinngemäß erklärt, das Regierungsprogramm solle von CDU und FDP geschrieben werden, "dann gedruckt werden", und die Grünen könnten es dann unterschreiben. FREIheitlich und DEMOKRATISCH? Angesichts solcher irrealer Vorstellungen war von den anschließenden Sonsierungsgesprächen zwischen CDU/CSU und Grünen mit den ohnehin auch zwischen diesen Parteien bestehenden Unterschieden fürs Erste nicht mehr viel zu erwarten. Aber langfristig ist durch diese Gespräche, wodurch die gegenseitige Anerkennung der Parteien gestiegen ist, der Weg für neue Koalitionsarten freier als bisher.

Die Tradition, daß die "stärkste Partei" zu Verhandlungen einlädt und den Kanzler stellt, ist von der SPD in Frage gestellt worden. Aber auch Willy Brandt und Helmut Schmidt regierten, ohne die stärkste Partei hinter sich zu haben. Das Grundgesetz verlangt nur, daß zur Kanzlerwahl eine Mehrheit aller Abgeordneten gefunden wird. Von Parteien ist da gar keine Rede. An anderer Stelle betont das Grundgesetz obendrein, daß Abgeordnete nicht an Weisungen gebunden und nur ihrem Gewissen verpflichtet sind.
(Auch die Eigenschaft der CDU/CSU als Fraktionsgemeinschaft aus 2 selbständigen Parteien, die je nach dem selbständig oder gemeinsam auftreten, wurde in diesem Zusammenhang von der SPD als Problem angeführt, aber im Endeffekt beantragt sie nicht, das zu ändern.)
Außerdem ist aus SPD-Kreisen ins Gespräch gebracht worden, daß in der Legislaturperiode auch 2 Jahre ein Kanzler und 2 Jahre ein(e) Kanzler(in) regieren könnte. Das wäre nicht von vornherein schlecht; aber all diese Diskussionen haben unter Anderem auch damit zu tun, daß der Bundeskanzler im Grundgesetz eine gegenüber den Ministern zu starke Stellung hat. 

Es ist immer noch unklar, was im Endeffekt gemacht wird; obwohl die Wahrscheinlichkeit einer "Großen Koalition" aus CDU/CSU und SPD gestiegen ist.

Ohne eine vorherige Einigung auf die Kanzlerwahl zu warten, wäre zwar rechtlich möglich, aber recht waghalsig.* Es würde möglicherweise zu einer Minderheitsregierung führen. Diese würde nötigenfalls mit wechselnden Mehrheiten regieren - was einerseits eine Chance wäre, wieder mehr Gesetzesinitiativen von den Ministerien in den Bundestag zu verlagern; was aber andererseits auch eine stets neue Suche nach Unterstützern bzw. nach einer unterstützungsfähigen Politik voraussetzt.

* Der neue Bundestag tritt erstmals am 18.10.2005 zusammen (nach dem Grundgesetz spätestens 30 Tage nach der Wahl). Falls vorher noch eine Bundestagssitzung stattfindet, handelt es sich noch um den alten Bundestag. Bei dieser Sitzung am 18.10. kann auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestag ein Kanzler gewählt werden. Weder das Grundgesetz noch die Geschäftsordnung des Bundestages schreiben jedoch vor, daß das schon bei dieser Sitzung geschehen muß - und es sollte auch nicht geschehen, solange die Kandidatenfrage nicht ausdiskutiert ist. Falls keiner gewählt wurde, kann der Bundestag 14 Tage lang in beliebig vielen Wahlgängen - nun ohne Bundespräsident auf Vorschlag von 1/4 der Abgeordneten - einen Kanzler wählen. Er muß nicht einmal überhaupt Mitglied einer Partei sein. Immer noch ist die absolute Mehrheit der Abgeordneten nötig. Ist immer noch kein Kanzler gewählt, wählt der Bundestag nochmals: dann genügt es, daß ein Kandidat mehr Stimmen bekommt als ein anderer. Nur: der Bundespräsident darf dann einen solchen Minderheits-Kanzler ernennen und vereidigen; aber er könnte theoretisch stattdessen den Bundestag erneut auflösen. Wir wollen einmal wohlwollend davon ausgehen, daß die Parteien es nicht so weit kommen lassen. (Inzwischen wurde Angela Merkel am 22.11.05 zur Kanzlerin gewählt; wegen inhaltlicher und anderer Spannungen ist jedoch nicht klar, wie lange diese Regierung halten wird.)

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