Betrachtungen zum Zeitgeschehen
Zum Koalitionsvertrag* für die neue deutsche Bundesregierung 2009
Den neuen Koalitionsvertrag selbst können Sie hier herunterladen (PDF-Format).
Steuern und Finanzen | Bei
einer CDU/CSU/FDP- Bundesregierung
sollte dieses Gebiet eine ihrer "Stärken" sein, wegen derer sie
gewählt wurde: daß sie angesichts
der andauernden Finanzkrise
spart, statt die - in aller Regel an der Krise unschuldigen -
Bürger/innen mit höheren Steuern zu überziehen, wie
andere Parteien das wollten, sondern sie eher zu entlasten; und statt
zusätzliche Kredite bzw. Schattenhaushalte vorzusehen. Zumindest,
daß sie an den richtigen und sozial verträglichen Stellen sparen wird,
ist bereits durch die Aussage in der Präambel des Vertrags zweifelhaft
geworden, wonach öffentliche "Investitionen" nicht gekürzt
werden sollen. Denn gerade darunter würden auch manche verschwenderische,
entbehrliche Prestigeprojekte fallen, die auch keine nachhaltige
Stabilisierung der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes bringen, und die neue
Kreditaufnahmen erfordern - auch wenn diese schon lange geplant waren. Die Verschwendung von Steuergeldern soll bekämpft werden. Die allgemein vorgesehene "Nutzung der Effizienzpotenziale der Bundesverwaltung" könnte einer der Punkte sein, um die es hier gehen könnte. Aber das sind bisher ziemlich unkonkrete Ansätze mit Untersuchungsbedarf, und es ist zu befürchten, daß die beteiligten Politiker daran noch erinnert werden müssen. Einige steuerliche Erleichterungen, u.a. Rücknahmen einiger unnötiger Verschärfungen der letzten Regierungen, oder entsprechende "Überprüfungen" z.B. der Kontenabfrage sind vorgesehen. Daß das Steuerrecht weniger kompliziert werden soll, wird angedeutet. Ob es wirklich leichter und unbürokratischer wird, bleibt abzuwarten. Eine EU-steuer wird abgelehnt. Auf EU-Ebene wird aber zur Zeit eine sog. Klimasteuer/ CO2-Steuer vorbereitet, die zwar - per EU-Vorschrift - von den einzelnen Staaten erhoben werden soll, die aber nicht diesen, sondern der Einlösung von Entwicklungshilfezusagen aus der EU an Drittländer zu Gute kommen soll. Auch ob das Thema Schattenhaushalte, das in den Koalitionsverhandlungen auftauchte, ganz vom Tisch ist, bedarf weiterer Beobschtung. Gegen Inflationsgefahren will die Regierung sich einsetzen. Die in der Bevölkerung kritisch betrachteten von der alten Regierung zugesagten Rettungsgelder für Banken usw. können sich allerdings, sobald tatsächlich wieder ein Wirtschaftswachstum einträte, inflationssteigernd auswirken. Auch wird bei einem Finanzminister - der bisher auf anderen Gebieten auf Datensammeln und Überwachung der Bürger/innen mit Tendenzen zum Generalverdacht setzte - darauf geachtet werden müssen, wie er sich in seinem neuen Arbeitsbereich gegenüber den Grundrechten verhält. |
Arbeit, Wirtschaft | Es wird neben
einer Haushaltskonsolidierung = Sparen auch auf Wirtschaftswachstum
gesetzt, - das aber im Gefolge der Finanzkrise über
Jahre stagnieren oder sinken kann. Für zu große Konzerne soll notfalls eine Entflechtungsregelung greifen, um mehr Wettbewerb bzw. weniger Abhängigkeit zu bekommen. Protektionismus zu Gunsten der inländischen Wirtschaft gegenüber der Globalisierung wird auch in der Krise abgelehnt. Eine zu große Hörigkeit gegenüber EU- und WTO- Vorstellungen usw. kann sich problematisch auswirken. Bürokratische Pflichten von Bürgern und Firmen sollen abgebaut werden (ja, aber hoffentlich nicht speziell für die von vielen Bürgern abgelehnten bzw. umstrittenen umweltrelevanten Projekte, für die es mit Recht umfangreiche Planungsanforderungen gibt). Das Schonvermögen für Langzeitarbeitslose wird erhöht. Auch die Zuverdienstgrenze soll erhöht werden. Offenbar bemüht sich die Koalition in positiver Richtung, dem ihr vorausgeeilten Ruf der Sozialkürzungen entgegenzuwirken. Sittenwidrige Löhne sollen verboten werden. Bisherige Mindestlohnregelungen sollen "überprüft" - d.h. möglicherweise gestrichen - werden. Was mit "Anreizen für sozialversicherungspflichtige Arbeit" gemeint ist, wird sich zeigen. |
Sozialpolitik, Rente, Gesundheit | Die
verschiedenen Sozialleistungen sollen auf eine Zusammenführbarkeit in
einem bedarfsorientierten Bürgergeld (FDP) überprüft werden. Anreize für eine Frühverrentung sollen wegfallen. Von einer Rücknahme der "Rente mit 67" - ein Thema von FDP-Politikern kurz vor der Wahl - ist nichts zu finden. Ab 2011 sollen die gesetzlichen Krankenkassen in Richtung Pauschalbeiträge umorientiert werden (CDU), an Stelle der bürokratischen Einkommensorientier"ung. Ob die langfristige Überführung des "bestehenden Ausgleichssystems" in eine "Ordnung mit mehr Beitragsautonomie" auch die Abschaffung des Gesundheitsfonds beinhalten könnte (FDP), ist inzwischen fraglich geworden. Die Arbeitgeberbeiträge sollen nicht steigen. Trotz dem damit verbundenen Eingriff in die unter anderen Umständen errungenen Besitzstände ist die mit den Neuerungen verbundene Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit der Kassensysteme und deren Zusammenarbeitsmöglichkeit eher zweckmäßig in der Krise des Gesundheitswesens - falls die vorgesehenen staatlichen Zahlungen ausreichend bemessen werden, um sozial Schwächere aufzufangen. Konzepte anderer Parteien waren jedenfalls nicht besser. Die Pflege soll entbürokratisiert werden. Bei der Pflegeversicherung soll zur Sicherung der Finanzierung eine kapitalgedeckte verpflichtende Zusatzversicherung erarbeitet werden. Das läßt sich erst seriös bewerten, nachdem ein Konzept vorliegt, wie Höhe der Beiträge, Sicherheit, usw. Die verwaschene Formulierung betr. der "Überprüfung" der unter Ärzten und Bevölkerung allgemein abgelehnten Gesundheitskarte läßt leider noch nicht auf deren Rücknahme schließen. |
Familie | Im Wesentlichen wie bisher. Ein Teilelterngeld bis zu 28 Monaten soll eingeführt werden; sowie ein Betreuungsgeld von 150,- Euro pro Kind, um verschiedene Angebote nutzen zu können (CSU). |
Bildung, Forschung | (Bildung
ist in erster Linie Angelegenheit der Bundesländer). Forschungsschwerpunkt High-tech. |
Umwelt, Energie, Verbraucher -schutz, Landwirtschaft, Verkehr | Betr.
der umstrittenen Atomenergie
enthält der Vertrag nur eine allgemeine Tendenz zu einer
Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke mit , d.h. konkrete
Entscheidungen sind aufgeschoben. Die Frage ist, ob
diese Regierung - die es schon wegen der Finanzkrise und deren Folgen
schwer haben wird -, es wagt, sich einen solchen unnötigen
"Nebenkriegsschauplatz" leisten möchte. Ob Häusermodernisierungen betr. Energieeffizienz nur auf sinnvollen Wegen verfolgt werden sollen, oder auf weitere bürokratische Zwangsauflagen für Altbaubesitzer gesetzt wird, die nur die Verschuldung der Betroffenen steigern würden, ist bisher nicht klar ersichtlich. Über solche einseitig CO2-orientierte Ansätze hinaus blieben die sonstigen Aussagen zu Umwelt-, Natur- und Verbraucherschutz schwach, z:B. betr. der in der Bevölkerung abgelehnten Gentechnik in der Landwirtschaft. (Genmais soll verboten bleiben, die Genkartoffel für Industriezwecke erlaubt). Für Milchbauern soll es wenigstens ein Sofort- Hilfsprogramm geben. Im Fall der Bahn kann die weiter verfolgte Teilprivatisierung auch problematische Auswirkungen haben (vielleicht ist sie aber in den nächsten Jahren weiterhin nicht möglich). |
Innere Sicherheit, Datenschutz, Föderalismus | Für
jugendliche Straftäter soll ein "Warnschussarrest" eingeführt
werden, und die Höchststrafe für Jugendliche soll erhöht werden.. In
der Rechtspolitik (Justizministerium) sind auch leichte Verbesserungen
für die Bürgerrechte möglich: Online-Sperren soll es bis auf weiteres
nicht geben, aber kinderpornographische Seiten
sollen gelöscht werden. Der Zugruff auf die
Vorratsdatenspeicherung soll für Bundesbehörden bis zum
Bundesverfassungsgerichtsurteil auf die Abwehr einer konkreten Gefahr
für Leib und Leben und Freiheit begrenzt werden (FDP). Im Bereich der Inneren Sicherheit soll das BKA-Gesetz - Online-Durchsuchungen - entsprechend dem Bundesverfassungsgerichtsurteil auf Verbesserungen für den Schutz des privaten Kernbereichs (FDP) überprüft werden. Mittel gegen Rechtsextremismus sollen auch gegen Extremismus anderer Art, d.h. Linksextremismus und Islamismus eingesetzt werden. Zur Volksabstimmung auf Bundesebene gibt es keine Aussage. Immerhin sollen z.B. Massenpetitionen über die bisherige Anhörung hinaus im Bundestag und seinen Ausschüssen behandelt werden. Das kann als ein Schritt hin zu einem späteren Recht auf eine Volksinitiative bzw. ein Volksbegehren gesehen werden. Deutschkurse und Integrationskurse sollen aufgewertet werden. |
Außenpolitik, Verteidigung | Betr.
den in der Bevölkerung vieler Staaten umstrittenen EU-Reformvertrag gibt
es keine klare Aussage, die einen Unterschied zur Politik der bisherigen
Regierung erkennen ließen. Die
deutschen Begleitgesetze - auf Grund eines
Bundesverfassungsgerichtsurteils geändert - sollen jedoch im Lauf der
Legislaturperiode überprüft werden, ob sie genügen (CSU). Die Türkei soll nur EU-Mitglied werden, wenn sie den EU-Anforderungen voll genügen würde, andernfalls soll sie eine privilegierte Partnerschaft bekommen. Forderungen in Richtung einer Berufsarmee (FDP) sind noch nicht durchgekommen. Der Wehrdienst soll auf 6 Monate verkürzt werden. Deutschland soll sich gegenüber den USA dafür einsetzen, daß die verbliebenen Atomwaffen aus Deutschland abgezogen werden. Die Politik gegenüber der NATO ist nicht deutlich verändert. Es ist unklar, wie bei weiteren internationalen kriegerischen Entwicklungen reagiert würde. Betr. Afghanistan wird auf die Afghanistan-Konferenz bzw. auf die gemeinsamen Bemühungen mit anderen Staaten gesetzt. |
Fazit:
Im Fall einer Verwirklichung der Vertragsinhalte könnten sich gegenüber
der Politik der vorherigen Großen Koalition in mehreren Bereichen leichte
Verbesserungen ergeben; allerdings auch einige Verschlechterungen; neben vielen
eher wie bisher laufenden Themen. Vieles blieb angesichts der allgemeinen
Krisenlage und in Anbetracht des Ministerkarusells mit vielen schwer
einschätzbaren neuen Besetzungen unklar. Die praktische
Politik dieser Regierung muß entsprechend beobachtet werden. Die Politik der
Großen Koalition war auch nicht komplett aus dem damaligen Koalitionsvertrag zu
ersehen, auch nicht mit der Fähigkeit des
"zwischen-den-Zeilen-Lesens"; denn es wurden auch schwerwiegende
Projekte durchgezogen, die nicht enthalten waren, und denen daher nicht
automatisch alle Koalitionspartner hätten zustimmen müssen. Eine solche
mangelnde Verläßlichkeit ist auch bei dieser neuen Regierung möglich.
Eine rein "lagerpolitische" Beurteilung
dieser Regierung insgesamt - "dafür oder dagegen" - ist sinnlos
geworden, angesichts der Tatsache, daß alle Parteien aus der Sicht der meisten
Bürger/innen in unterschiedlichen Punkten ihre Stärken und Schwächen haben.
Für die Bürger/innen wichtiger ist, wie sie sich zu den einzelnen Maßnahmen
der Regierung stellen wollen. Längerfristig ist es unabdingbar,
Volksabstimmungen zu einzelnen Themen auch auf Bundesebene zu ermöglichen.
Weitere Möglichkeiten wie Petitionen und friedliche Demonstrationen, sowie
Briefe an Abgeordnete können bei konkreten Themen genutzt werden.
Der Text des Koalitionsvertrags der CDU/CSU/FDP-Regierungskoalition
Zur praktischen Politik der deutschen CDU/CSU/FDP-Bundesregierung 2009-2013
Unsere Seite 2d.: Kommentar zum Koalitionsvertrag der Bundesregierung 2005-2009 .
S.a. die Bundestags-Wahlprogramme der Parteien 2009
S.a. unsere Ausarbeitung über gemeinsame Schnittmengen aller Koalitionsarten.
* Eine Bundesregierung basiert auf den sie unterstützenden Abgeordneten des Bundestages, bzw. den entsprechenden Parlamentsfraktionen der Parteien. Das Regierungsprogramm für die 4-jährige Legislatur- (=Gesetzgebungs-)periode wird zwischen den an der Koalition beteiligten Parteien in einem Koalitionsvertrag geregelt.
Auch z.B. die Verteilung der Ministerien kann in einem solchen Vertrag geregelt werden. Es ist üblich, daß die Partei, der ein bestimmtes Ministeramt zugesprochen wurde, alleine über dessen personelle Besetzung entscheidet. (Das ist jedoch nicht vorgeschrieben; und es ist auch nicht ratsam, von diesem Gewohnheitsrecht in einer Weise Gebrauch zu machen, die von vornherein Ärger zwischen den Partnern bereiten würde.) Allerdings kann ein Staatssekretär oder parlamentarischer Staatssekretär eines Ministeriums unter Umständen von einer anderen Partei gestellt werden als der Minister.
Es kann auch ein Koalitionsausschuß festgelegt werden, der grundlegende und Streitfragen vorbehandelt, die im Laufe der 4 Jahre auftauchen. Dieser Ausschuß kann, wenn er stark genug ist, auch einer allzu extremen Auslegung der grundgesetzlichen "Richtlinienkompetenz" des Kanzlers/ der Kanzlerin entgegenwirken, wie sie sich unter Gerhard Schröder eingeschlichen hatte. Es ist einfach Unsinn, wenn heute zuweilen zu lesen ist, die Richtlinienkompetenz bedeute, ein/e Kanzler/in könne oder gar solle im Alleingang "grundlegende politische Weichenstellungen vornehmen". Aus dem Begriff "grundlegende Weichenstellungen" kann die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit großer Veränderungen der Zielrichtung herausgelesen werden, während "Richtlinien" (Grundgesetz) auch einfach bedeuten kann, dem Weg entsprechend der Gegebenheiten eine klare Linie zu geben und diese Linie dann gegenüber Leuten abzusichern, die versuchen, davon abzuweichen. Außerdem gibt der Grundgesetzartíkel 65 wenig für Alleingänge her. Denn dort steht neben der Richtlinienkompetenz und der Verantwortung des Kanzlers z.B. auch, daß über Streitfragen zwischen den Ministern "die Bundesregierung" entscheidet (sog. Kollegialprinzip). Um wieviel mehr müssen also "grundlegende" Streitfragen an den Tisch der Bundesregierung! Alles andere untergräbt auch jenseits rechtlicher Überlegungen rein nach dem gesunden Menschenverstand und nach aller Erfahrung die Zusammenarbeit in einer Bundesregierung. Für neue Weichenstellungen ist zunächst die aufgrund der Wahlergebnisse zustande gekommene Koalition und deren Koalitionsvertrag zuständig. Soweit später neue Weichenstellungen nötig werden, kann der Koalitionsausschuß diese vorbesprechen, auf jeden Fall aber müßte die ganze Bundesregierung diese beraten. Im übrigen arbeitet auch eine Bundesregierung lt. Grundgesetz nach einer Geschäftsordnung - also nicht nach Wildwestmanier. Je grundlegender die Frage ist, desto breiter sollte darüber hinaus die Übereinstimmung innerhalb der Bundesregierung sein.
Es
gibt darüber hinaus auch noch den Bundestag, der sein Recht zurückgewinnen
muß, über "grundlegende politische Weichenstellungen" mit zu
entscheiden. Auch dort ist gerade für wichtige Fragen die Möglichkeit zu einer
Konsensbildung, sogar über die Koalitionsgrenzen hinaus angelegt. So
werden z.B. bestimmte Fragen vom - von allen Fraktionen bestückten -
Bundestagspräsidium vorbesprochen bzw. vom - ebenfalls alle Parteien
enthaltenden "Ältestenrat".
In einer konsequenteren Demokratie wie in der Schweiz wäre mit
"grundlegenden politischen Weichenstellungen" außerdem meist eine
Volksabstimmung verbunden; denn solche neue Weichenstellungen waren für die
Wähler vor der Wahl nicht unbedingt vorhersehbar, und sie haben sie mit einer
Parteienwahl nicht automatisch mit beabsichtigt, nur weil sie evtl. neben vielen
anderen Inhalten in einem Parteiprogramm standen.
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